WOC 2012: Rückblickbericht
"La tete et les jambes" - mit Kopf und Beinen
Die OL-WM 2012 fand in Lausanne, am Nordufer des Genfer See statt. Dort hieß er Lac Léman, wie auch alles andere lieber irgendwas Französisches hieß. Das deutsche Team, bestehend aus Christoph Brandt, Robert Krüger (beide SSV Planeta Radebeul), Alex Lubina (DJK Adler Bottrop), Sören Lösch (USV Jena), Bjarne Friedrichs (MTV Seesen) und Herrentrainer Andreas "Lücke" Lückmann (Post SV Dresden) sowie Esther Doetsch (DJK Adler Bottrop), Christiane Tröße (SV TU Ilmenau), Sieglinde Kundisch-Larson (USV TU Dresden), Damentrainer Jan Birnstock (OK Leipzig) und Physiotherapeutin Johanna Greiner (TSV Grünwald), reiste am Donnerstag vor Beginn der Läufe an. Wir bezogen Quartier in der Stadtmitte, im Hotel Elite. Das sollte nur am Rand erwähnt werden, aber vielleicht hat es sich ja tatsächlich positiv auf unsere Einstellung ausgewirkt, denn die guten Nachrichten sind: wir hatten fünf (unterschiedliche!) Läufer im A-Finale. Die schlechten gibt es nicht, denn niemand wurde verletzt und vertragen haben sich auch alle. Wir, die wir nicht ins A-Finale kamen, haben jede Menge gelernt. Aber nun der Reihe nach.
Am Donnerstag und Freitag gingen wir auf die Model Event Karten für die Lang- und Mitteldistanz. Am Sonnabend wurde es ernst für die Sprinter. Zwei der Herren, Robert und Alex, wollten nur Sprint laufen. Beide lieferten sichere und schnelle Läufe am Morgen bei der Quali und erreichten, genau wie Esther, das am Nachmittag stattfindende A-Finale. Anders als bei der EM gibt es bei einer WM keine B-Finalläufe.
Nachdem ich am Samstagmorgen allein beim Langdistanztraining war, konnte ich abends als Zuschauer den heißen Sommertag am Strand genießen und den schnellsten Läufern beim Hasten durch das rot-weiße Fahnenmeer zusehen. Die Stimmung war gut, die Bahn war so gelegt, dass die Läufer einmal im Gegenlauf am Zieleinlauf und damit an der Hauptmasse der Zuschauer vorbeikamen. Der Trick war, den Posten direkt auf dieser Pflichtstrecke nicht zu vergessen. Das gelang immerhin zwei Läufern des Herrenfeldes im Hexenkessel der Zielarena nicht. Die zahlreichen Zuschauer gestalteten die Karte teilweise neu, denn plötzlich verschwanden Posten und Postenobjekte hinter einer Wand aus Menschen, gerade am Endposten konnte man so leicht einige wertvolle Sekunden verlieren. Bei den Damen gewannen gewohnte Gesichter, Simone Niggli stand ganz oben. Bei den Herren war es lange spannend und am Ende gewann Matthias vor Matthias und Matthias. Alle drei Herren liefen in rot-weißen Trikots und unter der Schweizer Flagge, nur zu unterscheiden an ihren Nachnamen (Kyburz-Merz-Müller). Die Zuschauer waren natürlich aus dem Häuschen und das ganze lief live im Schweizer Fernsehen, wo es vor allem von deutschsprachigen Schweizern verfolgt wurde.
Am gleichen Abend folgte die Eröffnung und direkt anschließend die Siegerehrung auf dem Zielgelände am See, was sehr clever war, denn dann hatte man alle Teams, einige Zuschauer und die Abendsonne noch da.
Am Sonntagmittag begann die Langdistanzquali. Wir fuhren hinaus aus Lausanne und hinauf ins Mittelgebirge nordwestlich der Stadt. Es war einige Grad kühler, bestes Laufwetter. Der Wald sollte sehr "deutsch" sein, Mittelgebirge eben. Aber deutlich grüner, das hatten die alten Karten bereits verraten. Mücken sollte es auch geben, die zwei, die ich sah, konnten aber skandinavienerprobte Läufer absolut nicht schocken, nur die Japaner liefen dick eingekleistert mit Autan. Meine Aufregung war maximal und das war leider so gar nicht optimal für den Lauf und die Erwärmung - ich musste nämlich immer noch mal. Der Fehler passierte am ersten Posten. Den hatte ich gut gefunden, aber davon weg ging es irgendwie fehl, genau kann ich es nicht sagen, aber ich lief eine alberne Außenherumroute. Auf halbem Wege wurde mir der Fehler klar, aber meine Gegenstrategie war wenig hilfreich. Da ich nun auf breiten Forstwegen war, dachte ich einfach schneller zu laufen, was aber dazu führte, dass ich nicht alle Aufmerksamkeit dem Gelände und der Karte schenkte und so einen Pfad zu früh abbog, 100 Meter in den Wald hinein verschwand, feststellen musste, dass da Karte und Gelände nicht zueinander passten und so viel Zeit verlor. Am zweiten Posten angekommen lief ich endlich ruhiger und konzentrierter und es folgten keine weiteren Fehlsuchaktionen. Nur gegen Ende wurden meine Routenwahlen weniger treffsicher und im Ziel fehlten etwas mehr als vier Minuten um dabei zu sein.
Auch keiner der drei Jungs erreichte das Finale. Der Tag war allerdings vorbei, bevor man sich allzu viele Gedanken machen konnte und am Montag stand bereits der nächste Quali-Lauf an. Es ging noch weiter hinauf in die Berge, oben auf einem Pass war Umziehen und Umsteigen in einen Militärtransporter, der uns den halben Berg wieder hinunterbrachte. Dann folgten noch 1,7 km zu Fuß und das steil bergab, so dass man irgendwo mitten im Wald auf einer kleinen Kuhweide, dem Ziel schon fast auf einen Steinwurf nah gekommen war. Der Wald war nun nicht mehr wie irgendeiner in deutschen Landen, es war ein einziges unübersichtliches Gewirr aus kleinen und großen Bäumen, die alle Objekte verschwinden ließen, es ging beständig auf und ab, durch Löcher, Gräben, über winzige Felsbänder, ins Grün und Gelb. Es wurde ein technisch sehr, sehr anspruchsvoller Wald und wenn man versuchte, etwas schneller zu laufen, begann man zu stürzen und das nicht nur der Länge nach hin oder in einen Stacheldrahtzaun (so wie meine Wenigkeit) sondern auch in die falsche Richtung. Ich war trotz aller Vorbereitung wieder zu aufgeregt und die wichtigsten Lektionen des Vortages kamen nicht mehr in der Zentrale an. Die Stürzerei begann wieder am ersten Posten und es folgte ein kleiner Fehler auf den anderen. So richtig fangen konnte ich mich den gesamten Lauf lang nicht. Es lief irgendwie, aber eben nicht gut. Ich versuchte es immer wieder mit Schnelligkeit, aber das war der absolut falsche Weg. Am Ende kam ich auf grob geschätzte 14 Minuten Fehlerzeit. Es war wenig überraschend und auch nicht sehr ärgerlich, damit rauszufliegen, es war immerhin meine erste WM-Teilnahme und ruhig am Start stehen zu können, kann ich nirgendwo anders üben als bei einer EM oder WM. Umso mehr stieg die Stimmung (in unserem Team) als klar war, dass es zwei Läufer, Christiane und Bjarne, ins A-Finale schafften.
Und das fand gleich am nächsten Tag statt. Wieder in die Berge, mit ganz viel Sonnenschein aber bergfrischen Temperaturen, klassisch mit Kühen auf der Weide und Kuhfladen auf der Zielwiese, im Hintergrund die kleine Bergbahn vorbeischaukelnd … nur richtige Schweizer Schokolade fehlte. Dem Geschehen stundenlang zuzuschauen, erwies sich als ähnlich anstrengend wie ein Lauf selbst (zumindest fühlte es sich am Abend so an). Es gab zwei Großbildschirme, um die Ergebnisse und die GPS-Routen anzuzeigen. Oder aber die Kamerabilder der Läufer im Wald bzw. wie sie in unserem Rücken den letzten Wiesenhang hinab sprangen. Es war spannend, denn bei den Damen sah man Simone Niggli einen beachtlichen Schlenker im Wald laufen und somit alle Medaillenchancen verlieren und bei den Herren tauchten plötzlich neue Namen ganz vorn auf. Es dauerte jedoch recht lange bevor der Franzose Francois Gonon den Siegerplatz auf der roten Couch verlassen musste. Dann ging es Schlag auf Schlag und am Ende stand ein Lette ganz oben, Edgars Bertuks.
Es folgte ein freier Tag, an dem wir nach Männlein und Weiblein getrennt, Kleider für das Banquet am letzten Abend kauften. Nun ja, die Herren entschieden sich für Hemd und Hose, aber wir Damen fanden in all dem Wirrwarr aus wirklich merkwürdigen Sachen von Omas Kleiderschrank bis heute, ein paar hübsche Kleider. Danach kauften wir Mangos, Käse, Baguettes und Schinken und verbrachten den Rest des Tages am Strand. Dieser Tag diente dazu, abzuschalten und einmal nicht an OL, Karte und Kompass zu denken.
Am Donnerstag fuhren wir bereits wieder raus zu einem Staffeltraining. Es währte nur kurz, um unsere Beine nicht unnötig zu ermüden. Wir liefen alle gemeinsam und trainierten somit den Staffel-Gegnerkontakt. Am Nachmittag hatten wir Zeit das Langfinale live zu verfolgen. Edgars Bertuks bewies, dass der Sieg am Vortag kein One-Hit-Wonder war und lief auf Platz drei. Sieger wurde Olav Lundanes, der blonde Norweger (… oh, das sind ja alle) der mit einem Fünf-Minuten-Vorsprung ins Ziel kam. Die Lücke wurde dann noch etwas von Matthias Merz (SUI) geschlossen, sonst hätte man fast gedacht, das alle Läufer außer Olav "gewandert" wären. Die Zeiten waren einfach beeindruckend, das sagte auch Diethard (Kundisch, als SportIdent-Vertreter vor Ort), der die Läufer direkt am Start beobachtete und bereits beim Lauf über die Wiese bis zum Waldrand und Startposten, deutliche Zeitunterschiede messen konnte.
Freitag war ein weiterer Ruhetag, den jeder für sich nutzte. Ich war noch einmal in Lausanne unterwegs, in der Altstadt und ihren vielen Gassen, die sich kreuz und quer über den mit Tälern durchschnittenen Hang am Seeufer zogen. Es ging auf und ab und eigentlich nur auf der Suche nach einer Briefmarke, aber wie erklären, wenn man nur ein paar Brocken Französisch "spricht". Zudem, der Schweizer Perfektion geschuldet, war Briefmarke kaufen nicht ganz so einfach, wie es in anderen Ländern oder Sprachen klingen mag. Alles in allem war dieser Teil der Schweiz doch recht überraschend: bunt an Gesichtern, einfarbig an Sprachen und irgendwie exotisch (oder ich wohne in Schweden einfach zu weit weg davon).
Am Abend dann besprachen wir die Ziele und Aufgaben für die Staffel, und wieder machte sich etwas Nervosität aber auch Vorfreude breit. Für mich war es mehr die Vorfreude, ein guter Lauf sollte auch mir gelingen und wie ich gemerkt hatte, beim Buddeln in der Erinnerung, so liefen Staffeln bei mir fast ausschließlich gut. Und so auch am Sonnabend.
Es galt "Ladies first" (durch die Brombeeren…) und für uns lief Esther die Startstrecke. Christiane ging auf die zweite Strecke und ich bekam die Schlussbahn, so wie eigentlich immer. Die Chinesinnen wechselten kurz vor uns, weshalb ich nie allein im Wald war. Obwohl die Bahnen mehrfach und miteinander vergabelt waren, so wollte es der Zufall, dass Madame Shuangyan Hao und ich die genau gleichen Gabelungen hatten. Wenig überraschend wurde sie Richtung Ziel schneller und erschien am Sichtposten ein Stück vor mir. Ich hatte den Kampf bereits aufgegeben, aber am ersten Posten der Schluss-Schleife tauchte sie plötzlich neben mir wieder auf. Also ging das Rennen weiter. Ich hielt das Tempo hoch und musste schneller orientieren. Das ging gut, bis ich über einen Weg lief und einen parallelen Pfad wählte, was nur zweite Wahl bei der Routenwahl war und ihr somit den Vorsprung ermöglichte. Ich erreichte das Ziel mit exakt dem gleichen Rückstand, den ich zu Beginn hatte. Der verschenkte Platz war natürlich etwas ärgerlich, aber an etwas mehr Sprintstärke muss ich einfach arbeiten.
Wir kamen so auf den 18. Platz, was im Bereich des Möglichen und unserer Zielstellung lag. Für die Jungs lief das Rennen nicht ganz so gut und nach der Siegerehrung wollten alle nur schnell zurück ins Quartier. Viel Zeit blieb sowieso nicht, da wenig später der Konvoi zum Banquet aufbrach. Dort bewies sich eine weitere OL-Spitzenläufer-Qualität, die mir noch "fehlt" - die des "Halbe-Nacht-Durchtanzens". Ich gab halb eins auf.
Im Rückblick war es eine sehr aufschlussreiche und anstrengende Woche, trotz der vielen Ruhetage. Es erwies sich als Kräfte zehrender als gedacht, vermutlich durch die mentale Belastung. Man spürt den Druck, als Nationalläufer an den Start zu gehen, ob nun bewusst oder eher unbewusst. Man spürt es auch an den schweren Beinen nach nur zwei Läufen, wo bei einem 3-Tage-OL noch alles möglich ist. Die Ziele für nächstes Jahr sind gesetzt, hoffentlich sind dann mehr deutsche Läuferinnen am Start (der Qualiläufe).
Der Dank des Teams gilt zu allererst unseren zwei unermüdlichen Trainern Lücke und Jan. Und ebenso viel Dank geht an Johanna, die uns jeden Abend gut für die kommenden Läufe vorbereitet hat.
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